"Schwindel" in der Manufaktur

"Schwindel" in der Manufaktur

Im Sommer verbrachte ich ein paar Tage in Dresden. Wir residierten in Radebeul in der Villa Sorgenfrei, wo uns jeder Wunsch von den Lippen abgelesen wurde. Morgens frühstückten wir zu klassischen Klängen auf der liebevoll hergerichteten Terrasse und zur Nacht speisten wir bei warm schimmerndem Kerzenlicht in königlicher Atmosphäre. Schliesslich war es früher die Sommerresidenz eines Adligen.

Eines Vormittags entschlossen wir uns kurzfristig, der Gläsernen Manufaktur, der Endproduktionsstätte des legendären Premiumwagens Phaeton, im Zentrum Dresdens, einen Besuch abzustatten. Die nette Dame an der Hotelrezeption (sie musste kurzzeitig den Hund des Besitzerehepaars hüten, welcher gerne die Gäste anknurrte...) rief dort für uns an, um einen Termin zu vereinbaren. Wir hörten sie plötzlich aufgeregt sprechen. Nein, bitte kein Verkaufsgespräch, das Paar aus der Schweiz möchte nur einen Besichtigungstermin. Wir wurden also für 12.00 Uhr angemeldet und mussten uns sputen, um überhaupt noch teilnehmen zu können. Wir hetzten zur Tramstation, erwischten die Strassenbahn gerade noch und liessen uns ins Zentrum schaukeln.

Leider hatten wir uns zeitlich verkalkuliert. Als wir in das imposante Gebäude eintraten, teilte man uns freundlich mit, die Besichtigung hätte bereites vor etwa 10 Minuten begonnen. Wenn wir uns jedoch beeilen, können wir noch zur Gruppe vorstossen. Wir sollen im oberen Geschoss nach einem grossen schlanken Mann Ausschau halten. Wir nickten pflichtbewusst und stürzten in den oberen Bereich. Die Gruppe mit dem hochgewachsenen Mann hatten wir schnell erreicht und stellten uns unauffällig dazu. Endlich angekommen, konnte ich mich nun entspannen und sah mich um. Etwa zwanzig Leute, gemischt von Jung bis Alt, standen da interessiert um diese sehr sympathische Erscheinung. Gross, schlank und gutaussehend. Toller Anzug, wie auf den Leib geschneidert, trendige Frisur, ohne übertrieben zu wirken. Er sprach mit ruhiger entspannter, etwas leiser Stimme, und ich musste sehr gut hinhören, um ihn zu verstehen. Ich sah dass dies ein Profi war, ganz im Element, ohne zu stolpern oder im Text einzubrechen, sprach er flüssig und beantwortete unsere unzähligen Fragen. Der ganze Komplex war sehr eindrücklich. Ich hatte den Eindruck, alles ist geplant, nichts dem Zufall überlassen. Wir standen vor der Glaswand, die riesige Dimensionen einnahm und sahen verblüfft das kaum wahrnehmbare Bodenfliessband, welches unauffällig einen Phaeton von der hinteren Station zur nächsten beförderte. Da kam von oben plötzlich ein Arm daher, schob einen Teil an das unten wartende Autoteil heran und verband die Teile miteinander. Wie uns der Gutaussehende mitteilte, ist der Modus der Computer der Philosophie vom Phaeton angepasst. Kein hektisches Robotertreiben, sondern besonnene weiche Bewegungen der künstlichen Arbeiter. Ja, das konnte man sehen. Die Abläufe waren sehr harmonisch und schön anzusehen. So verlassen auch nur etwa 200 Phaetons pro Woche die Manufaktur, etwa 60 mal weniger als bei der Konkurrenz. Man teilte uns mit, dass wer ein solches Auto in Auftrag gibt, die Möglichkeit hat, vor Ort direkt am Bau mitzuwirken. Natürlich unter Aufsicht der Experten, die alle wie im Zukunftsfilm in weisse, steril aussehende Overalls gekleidet waren und konzentriert ihrer Arbeit nachkamen. Ich hatte wirklich Lust, die Glaswand zu durchschreiten und „mitzuwerkeln“. Der Zutritt ist für uns jedoch strengstens verboten. Wir hörten einige imponierende Argumente für den Kauf dieses Autos, nämlich dass er einen selbstheilenden Lack bei kleineren Schäden hat, eine Standlüftung, so dass es im Innern nie wärmer als Draussen wird, und einen Zuzieh-Schliessmechanismus, falls man mal Nachts unauffällig und ungehört ins Haus schleichen möchte... und wenn es Zeit für den Sevice wird, kommt jemand vorbei, bringt einen Ersatz-Phaeton und nimmt den anderen mit. Ja, diese Annehmlichkeiten sind toll.

Die Führung war so spannend und kurzweilig, dass ich es richtig schade fand als es für die letzten Minuten nach unten ging. Aber hier erwartete uns etwas ganz Einzigartiges, was mir für immer und ewig unvergesslich bleiben wird... Hier war auf einer Tribüne ein Original-Phaeton aufgebaut, in dem ein digitales Fahrtraining absolviert werden konnte. Ich reihte mich ein in die wartenden Schlange und freute mich riesig auf diese Herausforderung. Der erste Freiwillige stieg ins Auto, liess sich instruieren und verschwand geheimnisvoll hinter einer sich schliessenden Glastüre. Ich konnte es kaum erwarten, endlich an der Reihe zu sein und vertrieb mir die Minuten mit dem Lesen eines Textes, der einen vor möglichen Gefahren während der Testfahrt warnen sollte. Hier wurde unter anderem Schwangeren und leicht zu Übelkeit neigenden Menschen von der Testfahrt abgeraten. Man kann jedoch die Fahrt durch drücken des roten Pannenblinkers stoppen, jeder muss unbedingt angegurtet bleiben, und darf nur auf Kommando des Personals handeln. Huch, ich meinte direkt, mich auf einen Horrortrip einzulassen, wenn ich das alles las. So schlimm wird’s wohl nicht werden. So, endlich stieg der letzte Fahrer aus und überliess mir das Fahrzeug. Wir stiegen ein, ich auf der Fahrerseite, Urs auf dem Nebensitz. Die freundliche Frau machte mich nochmals auf alles aufmerksam, was ich schon gelesen hatte und los ging’s, endlich! Ha, ich sass am Steuer, griff an das hölzerne Lenkrad, konzentrierte mich auf die nette männliche Computerstimme und wartete auf das grüne Startlicht. Jetzt ging’s los. Zaghaft und vorsichtig setzte ich den Fuss aufs Gaspedal, und drückte behende drauf. Ich schoss vorwärts, kaum zu glauben und obwohl ich meinte kaum das Lenkrad zu drehen, direkt in Richtung Wand. Huch, erschreckt riss ich das Lenkrad in die andere Richtung und schaukelte von links harsch nach rechts. Dort wiederholte sich das ganze, diesmal von rechts nach links. Es wurde mir schlagartig schwindlig und übel, während ich krampfartig versuchte, den elenden Wagen in der Spur zu halten. Es gelang mir nicht, und während ich mir überlegte wie hoch die Kosten für die Innenreinigung werden, torkelte ich weiter von einer Seite zur anderen. Ich hatte kaum Zeit, mich um meinen armen Mann zu kümmern. Ich musste die nächste Gefahr abwenden, die Kollision mit dem Betonkanal, in den ich mich zu fahren entschieden hatte. Ich mutmasste gerade noch wie der Aufprall sich wohl anfühlen würde, als die erlösende Computer-Stimme aus dem Nichts kam und das Ende der Horrorfahrt ankündigte. Wie ich aus dem Wagen kroch, wie bleich ich die Treppe hinunterkam, das liebe Leser, erspare ich Ihnen. Immerhin ging’s unseren Mägen noch gut genug, ins betriebsinterne Trendrestaurant zu schwanken, um uns bei einem leichten Lunch unserem gegenseitigen Mitleid hinzugeben. Herrje, was für ein "Schwindel", hier in der Manufaktur.


© Yvonne Kunz, 2008